Sarah Kuratle im Gespräch: „Im besten Fall ist Literatur vielschichtig und mehrdeutig.“

© Otto Müller Verlag

Wir haben uns mit Sarah Kuratle über ihren zweiten Roman Chimäre, ihre Inspirationen und ihre Herangehensweise an den Schreibprozess unterhalten.

Chimäre taucht im Roman als Wunsch auf, als Alice‘ Wunsch, ein Fisch und zugleich ein Vogel zu sein. In anderen Worten: sich nicht festzulegen, es nicht zu müssen. Oder auch: frei, lebendig, in Bewegung zu sein. Alice sehnt sich danach, aus festen Mustern auszubrechen, sich selbst und zugleich sich im anderen als vermischt zu finden. Während Gregor Halt an den Grenzen des Individuums sucht, ist Alice immer mehr versucht, diese zu überschreiten, ob aus Neugier oder Sehnsucht, aus Liebe. Es heißt im Roman „Eine Chimäre, das will sie auch sein. Wenn sie auftaucht, ein Vogel. Absinkt, ein Fisch.“

Mir ist es wichtig, dass die Geschichte, die ich erzähle, ihre Figuren, Schauplätze und die Handlung spürbar werden. Damit Chimäre zu lesen bedeutet, sich im Geschehen, ob auf der Insel oder am Fluss entlang, mit allen Sinnen mittendrin zu erleben, für diese Zeit auch in dieser anderen Welt zu leben. Ich glaube, dass die Wahrnehmung die Voraussetzung dafür ist, dass wir etwas empfinden, dass Spüren und Fühlen zusammengehören. Ein Kuss im Buch bedeutet nichts oder zu wenig, wird er nur benannt. Eine Umarmung ist nur ein Wort oder beliebig, wenn sie nicht eingebettet ist in eine Stimmung.

Im besten Fall ist Literatur vielschichtig und mehrdeutig. Viele Bezüge setze ich bewusst beim Schreiben. Andere zeigen sich – oder entstehen – beim Wiederlesen oder Lesen durch andere Personen. Die Natur, die schon als Thema von Chimäre einen hohen Stellenwert hat, ist in ihrer wilden Verflochtenheit das Vorbild für meine Sprache und die Motive der Geschichte und Figuren. Wie der Roman verfasst ist und wie er beim Lesen sich immer wieder neu, anders zusammensetzt, soll er verwundern, tiefgehen, auch wehtun. Denn er verwehrt Abgeschlossenheit und Eindeutigkeit, wie wir sie im Alltag oft suchen (brauchen). Er entlarvt beides als Illusionen.

Alice im Wunderland und die Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln sind verrückte Bücher: Sie verrücken die Ordnungen, in der Sprache und im Benehmen, im Verhalten. Was vermeintlich so oder so zu lauten oder abzulaufen hat, wird umgekehrt oder übertrieben. Wörtlich genommen oder zu Ende gedacht (getan), gerät manche Konvention ad absurdum. In Chimäre geht es darum, die vorherrschende Perspektive auf Leben und Welt, den beherrschenden Umgang mit der Natur und dem Anderssein zu verrücken, Alternativen zu erforschen. Den Roman durchziehen eine labyrinthische Wasserwelt, eine Alice und ein Kaninchen. Verwirrung und Erkenntnis, Irrwege und Auswege hängen wie bei Lewis Caroll oft zusammen.

Chimäre ist aufs Engste mit Kunst, der Welt und meinem Leben verbunden. Selbst zu schreiben geht einher damit, sich anderen Kunstwerke anzunähern. Zum Beispiel Amor und Psyche als Geschichte eines Sich-Liebens, ohne sich zu sehen, geschweige denn zu erkennen. Oder Matsuo Bashōs Reiseschilderungen von Natur und zwischenmenschlicher Begegnung im Wechsel der Jahreszeiten und Jahre. Die Londoner Kew Gardens im Bemühen um Arterhalt auf der einen, das Fischsterben an der Order, Flussbegradigungen und die Verwüstung von Mooren auf der anderen Seite waren Inspirationen aus der Welt von damals und heute. Dann nahm die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte auch von Wandern, Besitz und Vertreibung Einfluss. Schließlich Lebensfragen, mein persönlicher Schmerz, meine Ängste, meine Wut und meine Liebe im Leben.

Wie Chimäre Welt und Gesellschaft verfremdet, auch verwandelt, ist mir vielfach erst im Rückblick klarer. Denn das innerste Wesen und damit die Anschauung der Figuren und ihrer Schicksale stellen sich in der Vorstellung und Wort für Wort ohne mein detailliertes Planen ein. Der Kern der erzählten Welt, der sich im Außen spiegelt, ist in einer Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit da. Um zu es fassen, muss ich schreiben und weiterschreiben und wieder und wieder im Text lesen. Ich muss in mich hinein und um mich herum spüren und fühlen, worum es geht, wo es schwer und leicht ist. Ich muss mir Wissen aneignen darüber, wie etwas wirklich ist, um zu erzählen, wie es sein könnte oder eigentlich war.



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